Der PRO•GRESS XV

Eine Fachtagung von PRO•NON e.V. am 24. April 2009 in München

Abstinenzgebot oder kontrolliertes Trinken?
Juristische, verkehrspsychologische und neurobiologische Aspekte

Kernaussagen und Ziel:
Die in der sekundären Prävention tätigen Verkehrspsychologen machen häufig die Erfahrung, dass während des Interventionsprozesses ein Konflikt zwischen dem Gebot nach lebenslanger Abstinenz und der Selbsteinschätzung der Klientel entsteht, dieses Gebot einhalten zu können oder zu wollen. Die wissenschaftliche Fachtagung wollte dieses Problem aus juristischer, therapeutischer, medizinisch-physiologischer und verwaltungsrechtlicher Seite betrachten und Lösungsvorschläge erarbeiten, die sowohl in der therapeutischen als auch in der gutachterlichen Tätigkeit hilfreich sein können.

Am 24. April 2009 fand in der wunderbaren Umgebung in München Schwabing im „Internationalen Begegnungszentrum der Wissenschaften“ der 15. PRO∙GRESS statt. In die sehr gut besuchte Veranstaltung führte unserer Kollege vor Ort, Johannes Vetter, ein. Das Publikum erwartete vier spannende Vorträge, nach denen jeweils rege Diskussionen entstanden. Den Anfang machte Ingo Buchardt mit seinem Beitrag:

A Folgen des Konsums im Fahrerlaubnisrecht

Herr Buchardt ist als Diplom-Verwaltungswirt im Ministerium für Infrastruktur und Raumord-nung des Landes Brandenburg für Fahrerlaubnis-, Fahrlehrerrecht, Güterkraftverkehrsrecht, und das Berufskraftfahrerqualifikationsrecht zuständig. U.a. ist er darüber hinaus Mitglied in den Fachausschüssen der Akkreditierungsstelle Fahrerlaubniswesen bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt).

Das geltende Straßenverkehrsgesetz enthält die wesentlichen Grundsätze und Eckwerte, wie das Ziel der Gefahrenabwehr erreicht werden kann. Es ermächtigt Verordnungen und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die der Erhaltung der Ordnung und Sicherheit auf öffentlichen Verkehrsflächen dienen. Eine dieser Verordnungen ist die Fahrerlaubnis-Verordnung. Ihr obliegt im Speziellen die Aufgabe über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr zu entscheiden.

Welche herausgehobene Bedeutung bei der Klärung von Eignungszweifeln der Alkoholprob-lematik zukommt, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass ihr ein eigener Paragraph 13 gewidmet wurde. Die Anordnung einer MPU kann nur erfolgen, wenn eine der in § 13 Nr. 2 FeV aufgeführten Tatsachen vorliegen. Also

  • nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen oder sonst Tatsachen
  • die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen,
  • sonst zu klären ist, ob Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit nicht mehr besteht
  • wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden
  • ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt wurde.

Ferner begleitet das Fahrerlaubnisrecht eine Vielzahl unterschiedlicher Promillegrenzen. In unserem Promille-Portfolio gibt es 0,0 / 0,3 / 0,5 / 1,1 / 1,6 Promille, um nur die wichtigsten zu nennen. Nicht alle Promillegrenzen sind jedoch in der FeV oder im StVG mit Wert benannt. Einige haben sich auf der Grundlage von Erkenntnissen der Alkoholforschung in der Rechtsprechung der Strafgerichte zur Unterscheidung der Nachweisbereiche die Begriffe „absolute“ und „relative“ Fahrunsicherheit etabliert.

Welchen Beitrag die straf- und verwaltungsrechtlichen Bestimmungen für die Erhöhung der Verkehrssicherheit geleistet haben zeigt ein Blick in die Statistik, nach der ein kontinuierliches Absinken der Zahl der Verletzten und Getöteten bei Straßenverkehrsunfällen unter Alkoholeinfluss zu verzeichnen ist (Definition Alkoholunfälle: es sind Unfälle, bei denen mindestens ein Unfallbeteiligter unter Alkohol gestanden hat).

Während also die gesetzlichen Bestimmungen einiges bewirkt haben, sagen sie nichts Ausdrückliches zur Frage, wann Abstinenz zu fordern ist. Hier wurde Professor Körkel in seinem Beitrag deutlicher:

B Kontrolliertes Trinken - eine geeignete Konsumempfehlung?

Prof. Dr. Joachim Körkel ist Professor für Psychologie an der Evangelischen Fachhoch-schule Nürnberg. Zudem ist er u.a. Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie e.V. (dg sps; www.suchtpsychologie.de) und entwickelt seit 2001 zusammen mit der Quest Fortbildungsakademie (Heidelberg; www.gk-quest.de): Schulungsprogrammen für Suchtfachkräfte und Behandlungsprogrammen/ -materialien für „Betroffene“.

Missverständnisse um das Konzept des kontrollierten Trinkens beginnen - auch im verkehrspsychologischen/-medizinischen Bereich (vgl. Schubert & Mattern, 2009) - bei der Frage, was genau darunter zu verstehen ist. Suchttherapeutisch steht der terminus technicus des (selbst)kontrollierten Trinkens für einen Alkoholkonsum, der an einem zuvor festgelegten Konsumplan/-regeln ausgerichtet ist (Vorabfestlegung von Frequenz, Menge und Rahmen-bedingungen des Konsums [z.B. „kein Alkoholkonsum vor Autofahrten“]). Zur Förderung ei-ner derartigen, bewussten Konsumsteuerung liegen verhaltenstherapeutisch strukturierte, manualisierte Programme vor - sowohl autodidaktische (z.B. „10-Schritte-Programm“) als auch einzel- (z.B. „EkT“) und gruppentherapeutische (z.B. „AkT“) - die sich i.d.R. über einen Zeitraum von 3,5 Monaten oder mehr erstrecken (Körkel, 2008a; www.kontrolliertes-trinken.de). Die in diesen Programmen vermittelten Inhalte (u.a. Führen eines Trinktagebuchs, [zunächst] wochenweise Zielfestlegungen, gezieltes Erkennen von Risikosituationen, Auswahl individualisierter Selbstkontrollstrategien u.a.m.) können ohne Probleme in Maßnahmen für alkoholauffällige Kraftfahrer zur Wiederherstellung der Fahreignung ein-gebunden werden.

Für die Aufgabe der pauschalen „Abstinenznotwendigkeit“ (Schubert & Mattern, 2009, S. 38f. u.a.) und die Einbeziehung der Option des kontrollierten Trinkens sprechen u.a. die folgenden Gründe:

  1. Programme zum kontrollierten Trinken sind mindestens so wirksam wie Abstinenzprogramme.

    Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien aus den letzten 40 Jahren belegt, dass Programme zur systematischen Konsumkontrolle – auch bei Alkoholabhängigen – Erfolgsquoten von durchschnittlich 65% erreichen und mindestens so erfolgreich sind wie Abstinenzprogramme (Körkel, 2002: Körkel, 2006; Rosenberg, 1993; Saladin & Santa Ana, 2004; Walters, 2000). Langzeitstudien demonstrieren, dass kontrolliertes Trinken auch über Jahre hinweg erfolgreich aufrecht erhalten werden kann bzw. das Reduktionsziel für 10-30% der Behandelten die Brücke zur Abstinenz darstellt (vgl. Körkel 2002).
    Eine magische, etwa biologisch vorgegebene Grenze, ab der kontrollierter Konsum absolut unmöglich wäre, gibt es nach bisherigen Studien nicht. Alkoholabhängige profitieren von Reduktionsprogrammen ebenso wie Alkoholmissbraucher (Körkel, 2006; Saladin & Santa Ana, 2004; Walters, 2000).

  2. Eine zieloffene Herangehensweise an Alkoholprobleme fördert ehrliche Klientenaussagen, eine kooperative Zusammenarbeit und die intrinsische Motivation des Klienten zur „wirklichen“ Änderung seines Alkoholkonsums

  3. Zieloffenheit wird der bioethischen Maxime gerecht, die Autonomie des Klienten zu wahren, d.h. nicht „instrusiv“ vorzugehen, wo dies vermeidbar ist.

Fazit: Die Vernunft als „der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben“ (Marquard) gebietet es, Programme zum kontrollierten Trinken gleichberechtigt neben Abstinenzprogrammen in die Palette verkehrstherapeutischer Angebote einzubinden – eben auch dort, wo bislang nur die Abstinenzoption bestand.

Das nun anstehende gemeinsame Mittagessen bot viele Möglichkeiten zum kollegialen Austausch unter den Teilnehmern. So kehrte man in gespannter Erwartung zurück, was wohl der Neurobiologe Prof. Dr. Michael Soyka dem bisher Gehörten entgegnen würde.

C Konsumempfehlungen - macht das Gehirn da mit?
Klinische und neurobiologische Befunde

Prof. Dr. Michael Soyka, Universität LMU München und Bern (CH), ist ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen.

Initiativen zum kontrollierten oder sozialen Trinken auch bei alkoholabhängigen Patienten hat es in den vergangenen Dekaden immer wieder gegeben, sie haben sich nie durchgesetzt. Auch die eigene langjährige klinische Erfahrung spricht dagegen, dass zumindest bei abhängigen Trinkern „kontrolliertes Trinken“ als stabiles, anstrengungsfreies, „natürliches“ Trinkmuster wieder erlernt werden kann. Eine Reihe von klinischen, aber vor allem auch neurobiologischen Befunden spricht dagegen.

Zunächst konnte in Tier-Modellen überzeugend gezeigt werden, dass auch nach jahrelanger erzwungener Abstinenz frühere alkoholabhängige Ratten bei erneutem Alkoholangebot sehr rasch und exzessiv in ihr früheres Trinkverhalten zurückfielen, dass also das süchtige Verhalten neurobiologisch fixiert war.

Wichtiger noch sind die neueren Ergebnisse der neurobiologischen Grundlagenforschung beim Abhängigen. Insbesondere mit neueren sogenannten bildgebenden Verfahren ist es gelungen, zentrale Suchtmechanismen wie Alkoholverlangen und die Reaktionen des Individuums auf bestimmte alkoholspezifische Schlüsselreize zu visualisieren, auch wenn noch nicht alle Funktionen ausreichend verstanden werden. In einer Fülle von Untersuchungen mit PET und FMRI konnte überzeugend gezeigt werden, dass das Gehirn Alkoholkranker auf bestimmte alkoholspezifische Stimuli, zum Teil auch auf Stressreize, ganz anders reagiert, als der nicht Alkoholkranke. Diese Befunde sprechen insgesamt dafür, dass Suchtverhalten nicht einfach erlerntes Fehlverhalten ist, sondern auch eine spezifische und neurobiologische Basis hat.

Die Therapieforschung bei Alkoholabhängigen hat zum einen gezeigt, dass im Langzeitverlauf nur sehr wenig Alkoholabhängige ihren Alkoholkonsum dauerhaft wieder reduzieren können. Die allerdings wenigen Untersuchungen zu Spontanverläufen bei Alkoholabhängigkeit haben ergeben, dass entweder der Alkoholismus fortgesetzt wurde, mit sehr hoher Mortalität, oder dass eine Abstinenz erreicht wurde. Auch verschiedene Therapiestudien und Meta-Analysen haben ein eher ungünstiges Ergebnis bei Studien zum kontrollierten Trinken bei Alkoholabhängigen gezeigt (Übersicht in Soyka und Küfner 2008). Dagegen sprechen auch eine Reihe von weiteren klinischen Gründen gegen das kontrollierte Trinken bei Ab-hängigen, etwa das Fehlen sicherer Prädiktoren für einen möglichen Behandlungsverlauf oder die Rolle von Selbsthilfegruppen.

Anders könnte sich die Situation bei „sozialen“ Trinkern mit erhöhtem Alkoholkonsum darstellen, die etwa mehr als die ärztlicherseits empfohlenen 20-40g Alkohol pro Tag trinken. Hierzu liegen aber kaum aussagefähige Langzeitstudien vor.

Herr Soyka führte noch weitere klinische und therapeutische Aspekte an, die anschließend diskutiert wurden.
Nach seiner Ansicht ist also kontrolliertes Trinken, zumindest bei Alkoholabhängigen, kaum möglich. Auch im folgenden Vortrag wird deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen Abhängigkeit und Missbrauch noch entscheidender geworden ist.

D "Es muss doch wohl möglich sein, dass mir einer sagt, was nun für eine positive MPU richtig ist: kontrolliertes Trinken oder Abstinenz? Ich will doch nur wissen, wo Norden ist!"

Abstinenznotwendigkeit und Anforderungen an Dauer und objektive Belege der
Abstinenz in der zweiten und überarbeiteten Auflage der Beurteilungskriterien

Referentin: Dipl. Psych. Anita Müller, fachliche Leiterin des Arbeitsbereichs Begutachtung der Fahreignung und stellvertretende Geschäftsführerin der AVUS GmbH, ist Mitglied der Ständigen Expertenkommission (StAB) zur Weiterentwicklung der „Beurteilungskriterien - Urteilsbildung in der medizinisch-psychologischen Fahreignungsdiagnostik“, die von der Deutschen Gesellschaft für Verkehrpsychologie (DGVP) und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) einberufen wurde.
Viele derjenigen, die im Zusammenhang mit einer ausgeprägten Alkoholproblematik mit einer Trunkenheitsfahrt aufgefallen sind und nach einer angemessenen Verhaltensänderung im Umgang mit Alkohol suchen, sind hin- und hergerissen in der Ambivalenz zwischen einer dauerhaften Alkoholabstinenz bzw. einem Alkoholverzicht und dem Wunsch, weiterhin Alkohol zu trinken, aber maßvoll und kontrolliert. Diese Ambivalenz ist zudem, wie wissenschaft-liche Erkenntnisse über Verhaltensänderungen im Allgemeinen zeigen, nicht nur ein einmali-ges Stadium, sondern tritt immer wieder auf und muss immer wieder neu bewältigt werden.

Die Beurteilungskriterien fordern dagegen bei Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit (Hypothese 1) oder einem vorliegenden Alkoholmissbrauch, bzw. einer Lerngeschichte, aus der sich eine mangelnde Kontrollfähigkeit im Umgang mit Alkohol ableiten lässt (Hypothese 2), eine dauerhafte Alkoholabstinenz bzw. einen Alkoholverzicht.

Außerdem werden entsprechend der vorliegenden Ausgangsproblematik und abhängig von der in Anspruch genommenen therapeutischen Unterstützung spezifische Anforderungen an die Dauer der bereits umgesetzten Alkoholabstinenz bzw. dem Alkoholverzicht gestellt. Zudem sind in der zweiten überarbeiteten Auflage der Beurteilungskriterien differenzierte Forderungen an die objektiven Belege für einen Alkoholverzicht aufgestellt worden.

Die Betroffenen müssen also - alleine oder mit professioneller Unterstützung - dementsprechend so früh wie möglich eine klare und differenzierte Einschätzung der bei ihnen vorliegenden Alkoholproblematik gewinnen; so schnell wie möglich nach dem Fahrerlaubnisentzug trotz aller Ambivalenz eine klare Entscheidung für die ihrer Problematik angemessene Verhaltensänderung im Umgang mit Alkohol treffen, ohne diese Ambivalenz in der Folge zu verleugnen, und diese Verhaltensänderung konsequent umsetzen sowie objektiv belegen.

Daraus ergeben sich entsprechend hohe Anforderungen an die Verkehrstherapeuten in den Bereichen einer differenzierten Eingangsdiagnostik, spezifischer Interventionen bei Alkohol-problemen sowie einer engen Abstimmung der therapeutischen Ziele mit den in den Beurtei-lungskriterien formulierten Anforderungen.

Die entsprechenden Hypothesen, Kriterien und Indikatoren aus der zweiten überarbeiteten Auflage der Beurteilungskriterien wurden dargestellt. Anhand von Fallbeispielen aus der Begutachtungspraxis wurde aufgezeigt, an welchen Punkten sich Probleme bei der Abstimmung der verkehrstherapeutischen Diagnostik, Zielsetzung und Intervention mit den Anforderungen aus den Beurteilungskriterien ergeben können.

Als ein Resümee der Vorträge lässt sich somit ableiten, dass ein individuelles Vorgehen bei jedem Ratsuchenden, so wie es den Mitgliedern von PRO∙NON ein Anliegen ist, wichtiger denn je wird.
Durch den Vortrag von Frau Müller wurde aufgrund der Aktualität der neuen Beurteilungskriterien das Bedürfnis der PRO∙GRESS-Teilnehmer deutlich, sich über die Konsequenzen auszutauschen. Aus der Diskussion entwickelte sich schließlich der Beschluss, eine gemeinsame Stellungnahme zu formulieren und diese den verantwortlichen Stellen zuzuleiten.